Die Zahnarztpraxis von Dr. Guido Elsäßer hat sich auf die Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Behinderung spezialisiert. DENTAL team war vor Ort – und wollte so schnell nicht mehr weg …
„Als Nächster kommt dann Herr Roland*“, sagt Dr. Guido Elsäßer. „Ach, der ist doch schon länger nicht mehr am Leben“, sagt der Betreuer relativ kühl und geht zurück in den Flur der Wohneinrichtung, um den nächsten Patienten zu holen. „Oh, dann streich ihn von der Liste“, sagt Elsäßer zu seiner Praxismitarbeiterin, die mit Stift bewaffnet in dem kleinen sechseckigen Zimmer steht.
An der Wand hängen bunte selbstgemalte Bilder, Brettspiele stehen in den Regalen, Handabdrücke der Bewohner verzieren ein großes Seidentuch, das von der Decke herabhängt. Der nächste Patient, der zur Untersuchung in das Zimmer tritt, ist Werner*. Werner ist schon über 80 Jahre alt – und hat nur noch einen Zahn. Doch auch dieser muss natürlich untersucht werden. Große Lust hat Werner heute allerdings nicht, und so nutzt er das Behandlungszimmer heute mal als Durchgangszimmer und verlässt den Raum flugs wieder auf der anderen Seite, um es sich im Fernsehzimmer gemütlich zu machen. „Na gut, dann schauen wir eben drüben einmal hinein“, sagt Elsäßer und verlegt seinen Arbeitsplatz spontan einen Raum weiter.
Mittendrin statt nur dabei
Wir befinden uns in der Diakonie Kernen-Stetten, zehn Kilometer östlich von Stuttgart, mitten in der schwäbischen Provinz. In 37 Städten und Gemeinden im Großraum Stuttgart nutzen viele Menschen die vielfältigen Hilfen der Diakonie. Hier in Kernen befindet sich das Gesundheits- und Therapiezentrum. In den zahlreichen Wohngruppen auf dem abschüssigen Gelände nahe dem Stadtkern leben zum größten Teil erwachsene Menschen mit Behinderung. Mittendrin statt nur dabei ist der Zahnarzt Dr. Guido Elsäßer – seit 2018 besucht er seine Patienten eben auch in den Wohngruppen.
In der Praxis, die nur ein paar Schritte von den Wohngruppen entfernt ist, hält heute Elsäßers Praxispartner Dr. Daniel Schöller allein die Stellung. Der Donnerstag ist bei Elsäßer für die Patienten mit Behinderung reserviert. Dass es dabei manchmal etwas lauter zugeht, daran hat sich das Praxisteam längst gewöhnt. „Donnerstags ist es eigentlich immer am spannendsten“, sagt die Hygienebeauftragte Britta Kraft. Die ZFA absolvierte schon ihre Ausbildung in der Praxis und bereut diese Entscheidung in keiner Sekunde. „Einige Kolleginnen aus der Berufsschule haben mich immer wieder gefragt, wie es ist, mit behinderten Patienten zu arbeiten. Für mich ist es aber ganz normal. Und ich glaube, in anderen Praxen würde ich mich vielleicht sogar langweilen“, beschreibt sie ihre Job-Motivation.
Keine Berührungsängste
Berührungsängste hat sie nicht. Kolleginnen, die neu anfangen, tun sich gerade zu Beginn aber manchmal etwas schwer. „Na klar, gerade wenn Kinder auf dem Stuhl liegen. Das ist natürlich hochemotional. Aber auf der anderen Seite bekommt man immer wieder so eine Herzlichkeit und eine Wärme zu spüren – das ist schon besonders“, sagt Kraft.
Selbstverständlich hat die Praxis Besonderheiten. Extragroße Behandlungsräume sind notwendig, falls ein Patient im Rollstuhl auftaucht und eventuell sogar noch einen betreuenden Begleiter mitbringt. Und wenn der Patient aus dem Rollstuhl in den Zahnarztstuhl gehievt werden muss, wird unter Umständen auch mal die Muskelkraft der Behandler benötigt. Mobile Behandlungseinheiten und Röntgengeräte werden ebenfalls genutzt und sichern die Flexibilität. Da kann es auch schon mal vorkommen, dass im Flur behandelt wird, weil der Patient partout nicht in den Behandlungsstuhl möchte. Auch Menschen mit Beeinträchtigungen der Sinneswahrnehmung gehören zu den Stammgästen in der Praxis, und auch für sie gibt es besondere Gerätschaften. Wenn zum Beispiel ein taubstummer Patient zur Behandlung anwesend ist, wird ein spezielles Schreibprogramm auf dem Laptop gestartet. Damit kann der Behandler den Patienten detailliert über die Dia‧gnose und die weitere Behandlung aufklären. Wenn es sich allerdings nur um kurze Absprachen handelt, reichen auch Stift und Papier.
Spezielle Fortbildungen
Das alles lernt man als ZFA nicht in der Ausbildung. Glücklicherweise gibt es bundesweit aber immer mehr Fortbildungen, die den richtigen Umgang mit Patienten mit Behinderung lehren und Tipps geben. Auch die Mitarbeiterinnen der Elsäßer-Praxis besuchen solche Fortbildungen regelmäßig. Doch manchmal tut es auch eine In-House-Schulung, und Elsäßer – der als Mitglied der DGZMK selbst als Referent für diverse Fort- und Weiterbildungsinstitute tätig ist – wird zum Lehrer. Denn: Immer wieder ändern sich Paragrafen, oder es gibt neue Forschungsergebnisse, die Einfluss auf die Arbeit in der Praxis haben.
Ein tiefes Aufatmen ging im Juli 2018 weithin durch die Republik. Seitdem haben nämlich Menschen mit Behinderung Anspruch auf präventive Leistungen gemäß § 22a SGB V. Nach harten Verhandlungen mit den Krankenkassen konnte die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) entsprechende Positionen durchsetzen. Für die Praxen bedeutet das: Zusätzliche Informationen und Pflegeanleitungen für diese Patienten sind nun abrechenbar. In der Praxis von Elsäßer wird sich ohnehin viel Zeit dafür gelassen, zusammen mit den Patienten einen Mundgesundheitsplan zu entwickeln und gegebenenfalls auch vor dem Spiegel zu üben. Dies erleichtert die Arbeit ungemein.
Über die Stadtgrenzen hinaus bekannt
Mittlerweile hockt Elsäßer vor Werner und redet ihm Mut zu. „Komm schon, wir kennen uns doch auch schon ziemlich lange. Mach einmal für mich den Mund auf“. Doch Werner bleibt stur und richtet seinen Blick weiter auf den TV-Bildschirm. „Manchmal sind uns natürlich die Hände gebunden, und wir können nicht untersuchen. In solchen Fällen hilft dann nur die Anästhesie“, erklärt Elsäßer. Werner wird also bald noch einmal in der Praxis vorbeischauen müssen.
Dort ist es nun richtig laut geworden. Zwei Patienten im Rollstuhl warten auf ihre Untersuchung im Warteraum, ein Patient mit Down-Syndrom verlässt gerade Behandlungszimmer 1. Nichts gefunden! Alles sauber! Glück gehabt! Eine Mutter und ihr Sohn sind außerdem extra aus Stuttgart angereist. Elsäßer ist mit seiner Praxis über die Stadtgrenzen hinaus bekannt – und beliebt. Immer mehr Zahnärzte rüsten auf und erweitern ihre Tätigkeitsschwerpunkte. Eine erfreuliche Entwicklung. Dadurch nimmt auch das Interesse der Helferinnen an dem Thema zu. „Ich würde jeder Auszubildenden mal empfehlen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, sagt Kraft.
Den Tod im Nacken
Die letzte Patientin an diesem Vormittag ist bettlägerig und wird nur noch durch eine Magensonde ernährt. Dass die ältere Dame wohl nicht mehr allzu lange leben wird, ändert nichts am Vorgehen. „Wir schauen uns natürlich alle Patienten an. Die Mundgesundheit soll möglichst bis zum Schluss aufrechterhalten werden“, erklärt Elsäßer. Mit Patienten zu arbeiten, die wohl nicht mehr lange leben, ist emotional. Daran muss sich auch das Praxisteam nach und nach gewöhnen. Doch gravierende Unterschiede zu der Arbeit in einer „normalen“ Praxis gibt es dahin gehend eigentlich nicht.
„Ein Lächeln ist oft das Wesentliche“ steht an der tapezierten Wand des Praxisgangs. Dieses Zitat des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry passt perfekt in die Räumlichkeiten der Praxis. Morgen ist Freitag. Dann wird es wieder ein bisschen ruhiger …
* Namen geändert
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