Immer mehr kleine Patienten kommen in die Praxis und haben Kreidezähne. Dr. Nadja-Marina Kellerhoff ist eine der Expertinnen auf diesem Gebiet. Wir haben mit ihr gesprochen, wie sich Kreidezähne von anderen Schmelzdefekten unterscheiden lassen und wie sie mit dem Leitsymptom Hypersensibilität umgeht.
Weiß-cremig bis gelbbraun aussehende Flächen auf den Zähnen, abgeplatzer Zahnschmelz oder fehlende Höcker: das sind nur ein paar der Merkmale der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation, umgangssprachlich auch Kreidezähne genannt. Dr. Nadja-Marina Kellerhoff, Spezialistin in Kinderzahnmedizin mit Praxis in Fribourg und externe Oberärztin, Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv-Kinderzahnmedizin, Universität Bern, ist eine der führenden Expertinnen auf dem Gebiet.
Frau Dr. Kellerhoff, seit wann beschäftigen Sie sich mit dieser Diagnose und wie viele Kinder sehen Sie etwa wöchentlich?
Dr. Nadja-Marina Kellerhoff: Ich beschäftige mich mit dem Thema MIH schon seit mehr als 20 Jahren. An manchen Tagen sehe ich mehrere Kinder mit MIH, gefolgt von Wochen mit vereinzelten Fällen. Das ist sehr unterschiedlich. Generell ist es aber so, dass ich überdurchschnittlich viele Patienten mit Kreidezähnen habe. Denn viele Kollegen schicken ihre Patienten zu mir. Das liegt u.a. daran, dass die Versorgung dieser Zähne sehr anspruchsvoll ist. Denn wegen der hypersensiblen, kälteempfindlichen MIH-Zähne sind die Kinder oft sehr ängstlich. Kreidezähne unterscheiden sich deutlich von normalen oder naturgesunden Zähnen. Sie sind mindermineralisiert, porös und bröselig, was den Haftmechanismus für einer konservative oder prothetische Versorgung zusätzlich verschlechtert.
Welche Entwicklung beobachten Sie in den letzten Jahren bezüglich der Häufigkeit der MIH?
Kellerhoff: Ich denke, die Sensibilisierung für das Thema und das Interesse an dieser Problematik sind heute definitiv größer als früher. Es gibt immer mehr Publikationen zum Thema MIH. Viele Arbeitsgruppen haben das Problem erkannt und wollen mehr darüber wissen und publizieren. Aber im Prinzip ist MIH nichts Neues. Der englische Zahnarzt Turner hat diese Zahnbildungsstörung bereits 1912 beschrieben. Das darf man jedoch nicht mit dem Turner-Zahn verwechseln, der ein anderes Krankheitsbild beschreibt.
Wir haben heute auch viel mehr Möglichkeiten als noch vor 20 bis 30 Jahren, diese Patienten zu begleiten. Ältere Kollegen und Kolleginnen erzählen mir, dass stark betroffene MIH-Zähne früher schnell kaputt gingen und deshalb gezogen wurden oder es wurde in jungen Jahren eine Stahlkrone auf die betroffenen Zähne gesetzt. Stahlkronen werden heutzutage in gewissen Fällen für die Versorgung eines durch Karies erheblich geschwächten Milchzahnes verwendet. Mit den heutigen fluoridfreisetzenden, lichthärtenden Glasionomerzementen (z.B. Fuji Triage) gelingt eine recht gute intermediäre Versorgung. Das früher verwendete Amalgam expandierte beim Abbinden und deshalb sind bei dieser Füllungstherapievariante die Kreidezähne öfter frakturiert, mit dem Ergebnis, dass der betroffene Zahn oft gezogen wurde.
Was sind die häufigsten Ursachen für Kreidezähne?
Kellerhoff: Es werden verschiedene ätiologische Faktoren in diversen Studien diskutiert, wie Früh- und Mangelgeburt mit Sauerstoffschwankungen, der Dioxingehalt in der Muttermilch bei langem Stillen, Störungen im Mineralhaushalt oder Zöliakie. Auch heftige fieberhafte Erkrankungen in besonders anfälligen Perioden, etwa während der ersten zehn Lebensmonate, mit zweieinhalb oder mit fünf Jahren können Auslöser sein. Man hat aber bis heute keine eindeutige Ursache gefunden, warum manche Zähne betroffen sind und andere nicht. In einem Gebiss gibt es auch nie zwei identisch betroffene Kreidezähne. Der eine Sechsjahrmolar, auch 6er genannt, hat opake Flecken, dem nächsten fehlt vielleicht der halbe Höcker und ein anderer Molar hat gar nichts. Es würde uns wirklich weiterbringen, wenn das „warum“ gefunden würde. Dann wäre gegebenenfalls eine Prävention möglich.
Im Internet und von bestimmten Gruppierungen wird das Fluorid in den Kinderzahnpasten für Kreidezähne verantwortlich gemacht. Allerdings muss man dabei unbedingt die Entwicklungszeiten beachten. Die Höckerspitzen der 6er werden ja intrauterin im letzten Schwangerschaftsmonat gebildet. Da hat man ja logischerweise gar keine Chance die Zähne des Kindes zu putzen. Wenn das Kind auf der Welt ist, putzt man ja nicht eine leere Gingiva und wenn das Kind dann Zähne bekommt, hat sich der 6er schon längst gebildet. Insofern ist ein vermeintlicher Überfluss an Fluorid kein schlüssiges Argument für MIH bei den 6ern.
Was sind die wichtigsten Merkmale, um eine MIH frühzeitig zu erkennen? Und wie lässt sie sich von anderen Schmelzdefekten wie z.B. Fluorose unterscheiden?
Kellerhoff: Fluorose ist relativ einfach zu differenzieren, wenn man die Perikymatien sieht. Das sind kleine weiße Linien, die akzentuiert sind, vergleichbar mit den Wachstumslinien eines Baumes. Beim Kreidezahn sind das eher unklar begrenzte Flecken und es gibt eben keine zwei Zähne, die das gleiche Muster aufweisen. Bei Fluorosen ist das viel gleichmäßiger. Früher hat man Schwangeren Fluorid-Tabletten gegeben und gehofft, dass die Zähne der Kinder dadurch besser werden. Doch die Zahnhartsubstanz des Babys änderte sich dadurch nicht, da Fluorid die Remineralisierung nur lokal beeinflusst, wie wir heute wissen.
Lässt sich eine Kariesläsion ebenso gut von der MIH abgrenzen?
Kellerhoff: Ja, eine Karies ist nicht bröselig, sondern weich. Die Karies wird durch Bakterien verursacht, die dann Säure bilden und die Zahnsubstanz auflösen. Die Karies-Läsionsstellen sind sehr häufig in bestimmten Zonen zu finden: in den Fissuren, den Grübchen oder am Zahnfleischrand. Bei MIH gibt es keine besonders oft betroffenen Zonen.
Was sind die besonderen Herausforderungen für die betroffenen Kinder und deren Eltern?
Kellerhoff: Zwischen Eltern, Kindern und Praxispersonal muss ein hohes Vertrauensverhältnis gebildet werden und es sollte eine enge Rückkoppelung möglich sein. Die Eltern sollten sofort erfahren, wenn das Kind etwas am betroffenen MIH-Zahn merkt, beispielsweise wenn es plötzlich beim Trinken einen heftigen Kältereiz spürt. Wichtig ist, dass die Eltern bzw. der behandelnde Zahnarzt dem Kind auch keine Vorwürfe machen, wenn es dann doch einmal ein Bonbon oder etwas ähnliches gegessen hat und beim Draufbeißen am MIH-Zahn etwas abgebrochen ist. Zucker- bzw. säurehaltige Getränke sollten im Alltag möglichst vermieden werden. Auch die in Mode gekommenen Quetschies sind sehr schädlich für die Zähne und bleiben zudem viel zu lange im Mund. Überhaupt sollten Kinder wieder mehr Nahrung zum Kauen bekommen, wie beispielsweise ein normales Pausenbrot, Äpfel oder ähnliches. Es ist nicht immer einfach für Eltern, sich hier gegen die Einflüsse von außen, beispielsweise von Freunden oder Klassenkameraden, durchzusetzen.
Worauf sollten die Zahnärzte im Umgang mit solchen Patienten und den Eltern achten?
Kellerhoff: Das Wichtigste überhaupt ist Ehrlichkeit. Es muss von Anfang an klar sein, dass man als Zahnarzt nie alleine, sondern nur zusammen mit dem Kind, den Eltern und dem Praxisteam erfolgreich sein kann. Es ist immer ein gemeinsamer Weg. Wir versuchen interdisziplinär die beste Lösung zu erarbeiten. Niemand kann etwas für diese Zahnerkrankung, weder die Eltern noch das Kind. Das wichtigste Ziel ist die Schmerzfreiheit des Kindes. Es kann auch niemand dafür garantieren, dass an diesen Zähnen nach der Behandlung nicht wieder etwas passiert oder ein MIH-Zahn gar bricht. Oft gehören auch Kieferorthopäden und Oralchirurgen zum interdisziplinären Team, denn Kreidezähne können auch bei der Zahnentfernung unkontrolliert brechen. Gemeinsam erarbeiten wir die beste Langzeitlösung, um das Kind nicht unnötig leiden zu lassen. Der Schlüssel für eine optimale Betreuung der MIH-Patienten ist das offene Gespräch mit allen Beteiligten.
Schmerz, Angst und Selbstvorwürfe gelten als große Probleme, die mit MIH assoziiert sind – wie gehen Sie in Ihrer Praxis damit um?
Kellerhoff: Ein Kind mit MIH-Zähnen ist zu Beginn oft ängstlich, weil diese Zähne sehr sensibel auf chemische, mechanische und thermische Reize reagieren. Es ist verständlich, dass das Kind am liebsten nicht möchte, dass man den Zahn berührt und nicht mit Wasser, Zahnpasta oder einer Füllung versorgt wird. Vertrauen aufzubauen ist deshalb ausschlaggebend für den weiteren Erfolg der Therapie, ebenso wie Einfühlungsvermögen und ein behutsames Vorbereiten auf die Behandlung. Das Kind sollte keine Angst vor Instrumenten oder Geräten haben, die wir verwenden. Ich demonstriere deshalb meistens an einem gesunden Zahn erst einmal, mit welchen Instrumenten ich arbeite und dass diese nicht per se weh tun. Ich erkläre dann auch, dass wir helfen wollen, das Kind von den Schmerzen zu befreien und dass wir das nur schaffen, wenn die Behandlung ordentlich durchgeführt wird.
Wir sprechen von Anfang an mit den Kindern offen und ehrlich und erklären, dass sie schwierige Zähne, aber nichts falsch gemacht haben. Auch den Eltern muss man Sicherheit geben im Sinne von: Wenn das mein Kind wäre, hätte ich eine Mineralisationsstörung auch nicht verhindern können. Die Kreidezähne haben sich einfach so gebildet, das ist leider zum heutigen Zeitpunkt nicht beeinflussbar. Ich arbeite auch gerne mit Bildern. Eine schöne Metapher für mich ist das Gestein unserer Kathedrale hier in Fribourg, die ständig renoviert werden muss, im Vergleich zum soliden Granit unserer Schweizer Berge. Ich erkläre den Kindern, dass ihre Zähne wie das Gestein der Kathedrale sind und ebenso gepflegt und instandgehalten werden müssen. Das verstehen die Kinder und die Eltern sehr gut.
Hypersensibilität (HS) ist ein Leitsymptom der MIH. Kinder trauen sich aufgrund der Schmerzen deshalb oft nicht, die Zähne regelmäßig zu putzen. Welche desensibilisierenden Maßnahmen empfehlen Sie?
Kellerhoff: Wenn das Kind bei der ersten Sitzung zu ängstlich ist, appliziere ich gerne Duraphat Fluoridlack. Sobald sich eine Calciumfluorid-Deckschicht über den Dentin-Kanälchen und der Zahnhartsubstanz gebildet hat, merkt das Kind, dass es weniger schmerzhaft ist. Das ist natürlich ein positiver Effekt und fördert das Vertrauen. Die Kinder sind dann auch eher bereit, die Zahnpasta zu verwenden, die wir ihnen empfehlen. Das ist in der Regel elmex SENSITIVE PROFESSIONAL und ich gebe dann auch elmex SENSITIVE PROFESSIONAL Zahnspülung. Die Kinder merken, dass es gut tut und die meisten sind dann bereit für den nächsten Schritt der Behandlung. Diese Produkte können die Patienten auch gut zuhause anwenden.
Wenn wir einen Fall mit einem größeren Defekt haben, sind das unsere schwierigsten Patienten. Diese Zähne haben meistens eine große Fraktur und sind extrem hypersensibel. Selbst mit einer Lokalanästhesie können diese noch kälteempfindlich sein. In schweren Fällen verordnen wir daher ein Schmerzmittel wie Ibuprofen ein bis zwei Tage vor der Behandlung. Bei sehr ausgedehnten Defekten verwenden wir Fuji Triage pink. Wir zeigen das nach der Anwendung auch den Eltern, damit sie sehen können, dass alles schön zugedeckt ist. Sind keine grossen Frakturen vorhanden, so ist auch Scotchbond eine mögliche Alternative im Sinne einer Desensibilisierung. Dieses Bonding hat den Vorteil, dass man nicht ätzen muss.
Was antworten Sie, wenn die Kinder die Zahnpasta bzw. sonstige Mundhygiene-Mittel als zu scharf empfinden?
Kellerhoff: Was die Kinder meistens als zu scharf empfinden, ist Menthol. Wenn mir ein Kind sagt, dass die Zahnpasta zu scharf ist, lasse ich sie elmex SENSITIVE PROFESSIONAL beispielsweise mit elmex Junior mischen oder ich gebe ihnen elmex mentholfrei dazu. Das hat den Vorteil, dass dann auch Aminfluorid dabei ist. Allerdings merken die meisten Kinder, dass ihnen die Zahnpasta gegen die Hypersensibilität guttut und benutzen diese deshalb freiwillig gerne. Ich spreche mit den Kindern im Vorfeld darüber und erkläre ihnen, dass sie die Zahnpasta, die nach Minze schmeckt, einfach mal ausprobieren sollen und mir dann Rückmeldung geben, was sie davon halten und wie sie gewirkt hat. Wir haben damit hervorragende Erfolge und die elmex SENSITIVE PROFESSIONAL Zahnpasta wird sehr gut toleriert.
Welche ergänzenden Empfehlungen möchten Sie als MIH-Expertin Ihren nicht auf dieses Thema spezialisierten Kollegen mitgeben?
Kellerhoff: Extrem schlimme Kreidezähne können selbst mit vorheriger Anästhesie sehr empfindlich auf Kälte reagieren. Patienten spüren in diesen Fällen sogar den Kältereiz, wenn man mit der 3-Wege-Spritze die Zahnpasta auf dem betroffenen Zahn nach dem Putzen abspülen möchte. Bei den sehr schlimmen Fällen geben wir aus diesem Grund manchmal ein Schmerzmittel, z.B. Ibuprofen. Dieses kann dreimal pro Tag für zwei Tage vor der Behandlung eingenommen werden oder wenn es nicht ganz so schlimm ist, einmal bis zu einer Stunde vor dem Behandlungstermin.
MIH-Patienten zeigen auch eine geringgradige chronische Pulpa-Entzündung. Dadurch ist die Pulpa eher sauer und im sauren Umfeld wirken unsere Anästhesien nicht so gut. Entzündungshemmende Schmerzmittel helfen der Entzündung entgegen zu wirken wodurch die Patienten während der Behandlung unempfindlicher sind. Auch hier gilt: vor der Behandlung die Wahrheit sagen, ankündigen, dass es unangenehm und kalt sein kann und dass wir das leider nicht ändern können, aber alles dafür tun, dass das Kind keine Schmerzen hat.
Eine andere Methode, die ich in den letzten Jahren sehr erfolgreich anwende, sind Elemente aus der Hypnose. Beispielsweise in dem die Kinder innerlich die Luft anhalten, im Meer tauchen durch Wasser und Wellen, mit Delphinen schwimmen – natürlich nur, wenn sie Wasser mögen. Wir lassen sie zählen, wie viele Delphine sie dabei sehen. Das üben wir vor der Behandlung mit den Kindern und in jedem Behandlungsschritt gibt es Intervalle, in denen wir die Anzahl der Delphine abfragen. Es ist wirklich interessant wie die Kinder das mitmachen und wie erfolgreich die Methode ist. Ich kann die Techniken der Hypnose auch sonst in der Kinderzahnmedizin sehr empfehlen. Schwierige MIH-Behandlungen werden dadurch entspannter für alle.
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