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Expertenrat zur Gewaltprävention in der Praxis

Umgang mit aggressiven Patienten

Haben sich Patienten Dir gegenüber auch schon einmal aggressiv oder unangemessen verhalten? Was Du in diesem Fall tun kannst, sagt Dir Experte Dr. Martin Eichhorn.

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Die Gewalt gegen medizinisches Personal nimmt seit ein paar Jahren immer mehr zu. Deeskalationstrainer Dr. Martin Eichhorn berichtet, dass auch zahlreiche andere Berufsgruppen im Dienstleistungssektor mit Aggression und Gewalt zu kämpfen haben. Doch wie kannst Du im Fall der Fälle reagieren? Dr. Martin Eichhorn gibt Euch exklusive Tipps zum Umgang mit aggressiven Patienten in der Zahnarztpraxis. So lernt Ihr, wie Ihr auf Beleidigungen, Handgreiflichkeiten oder auch sexuelle Belästigung am besten reagiert.

Gibt es Unterschiede bei verschiedenen medizinischen Berufsgruppen?

Dr. Martin Eichhorn: Was das Praxispersonal betrifft, sind hier – soweit ich das einschätzen kann – durch die Bank alle Berufe betroffen. Die Fachangestellten sind oft der erste Puffer, bei dem sich der Patientenfrust in der Praxis ablädt. Stark betroffen sind außerdem Notaufnahmen, wo es viele Menschen in Ausnahmesituationen gibt. Das trifft auch auf Notärzte und Sanitäter zu, die im Rettungswagen fahren. Aber auch Zahnärztinnen und Zahnärzte – hier spielt noch mit rein, dass es oft um Schmerzen, hohe Kosten und Scham geht. Das sind Faktoren, die Menschen, die ohnehin Probleme mit dem Gewaltthema haben, eher die Beherrschung verlieren lassen.

In welchen Situationen wird medizinisches Personal beispielsweise angegriffen?

Dr. Martin Eichhorn: Ein Faktor ist natürlich immer, wenn Menschen alkoholisiert in die Praxis kommen. Ein weiterer Faktor ist die Sorge um Angehörige – da spielen unter Umständen auch interkulturelle Konflikte eine Rolle. In größeren Praxen oder in Notaufnahmen gibt es das häufiger. Dann gibt es das Problem, dass Patienten häufig bestimmte Abläufe nicht nachvollziehen können. Da hilft es oft, die Menschen detailliert zu informieren, was als nächstes passiert und mit welchen Wartezeiten sie ungefähr rechnen müssen. Denn Aggression ensteht oft aus der Unsicherheit. Selten sind Fehlbehandlungen die Ursache für Gewalt – egal, ob es um tatsächliche oder nur vermutete Fehlbehandlungen geht.

Gibt es strukturelle Gründe für Gewalt, wie etwa Personalmangel?

Dr. Martin Eichhorn: Auf jeden Fall! Aggression entsteht oft, wenn Personalmangel zu längeren Wartezeiten führt. Und wenn medizinisches Personal wegen des Personalmangels über Gebühr länger arbeiten muss, ist es auch gestresster und kann nach einer langen Schicht vielleicht nicht mehr so viel zur Deeskalation eines Konflikts beitragen. Denn man darf nicht vergessen: Wenn es Konflikte gibt, sind meist zwei Parteien beteiligt. Manchmal liegt es auch am medizinischen Personal. Gerade bei Stress und langen Arbeitszeiten kommt es auch mal vor, dass das medizinische Personal die Patienten nicht so behandelt, wie es wünschenswert wäre. Vielleicht sind Fachangestellte dann etwas unhöflicher, ohne es selbst zu merken, oder die Patienten müssen als Blitzableiter herhalten. Das ist alles denkbar. Trotzdem würde ich sagen, der größte Teil der Konflikte geht von den Patienten aus.

Wie reagieren Opfer von Beleidigungen oder Drohungen im ersten Moment normalerweise?

Dr. Martin Eichhorn: Verbale Übergriffe sind natürlich wesentlich häufiger als körperliche Gewalt – denken Sie allein an den Straßenverkehr. Wenn jemand verbal beleidigt wird und es nicht gewöhnt ist – das ist immer auch eine Frage der Herkunft und des Milieus – dann sind die meisten Menschen erstmal verschreckt, überfordert und verstummen unter Umständen. Sie wissen gar nicht, wie ihnen in dem Moment geschieht. Ich habe beispielsweise mal gehört, wie ein Patient eine Fachangestellte „Thekenschlampe“ genannt hat. In so einem Fall ist man natürlich erstmal geschockt und weiß nicht, wie man reagieren soll. Schlagfertigkeit ist in so einem Moment den wenigsten Menschen gegeben. Aber es erfordert Schlagfertigkeit, um mit solchen Leuten klarzukommen.

Wie kann man sich auf so eine Situation vorbereiten, und welche Reaktionen empfehlen Sie?

Dr. Martin Eichhorn: Mein Rat ist, sich im Vorfeld schon Formulierungen parat zu legen. Wenn man in einer Praxis in einem sozialen Brennpunkt arbeitet, kommt man regelmäßig in solche Situationen und ist da auch schon etwas versierter. Aber auch, wer nur selten beleidigt wurde, sollte das gedanklich einmal durchspielen und eine Formulierung auf dem Kasten haben, die man ohne großes Nachdenken einfach abrufen kann, wenn man beleidigt wird. Die Formulierung sollte einem gefallen und zu einem passen. Es reicht im Grunde schon eine ganz minimalistische Reaktion – äußerlich gelassen zu bleiben und einfach mit „so, so“ oder „ach was“ zu antworten. Man kann auch sagen: „Ich helfe Ihnen gern, aber nicht in diesem Ton“, und dem anderen so eine Grenze aufzeigen. Oder wenn man etwas schlagfertiger wirken möchte, kann man auch fragen: „Oh, können wir diesen Teil überspringen?“ oder „Gibt es Sie auch in nett?“. Solche Dinge können schon helfen. Sie können mit dem richtigen Spruch im richtigen Moment Leute mundtot machen. Und wenn Sie beleidigt werden, geht es genau darum: zu zeigen, dass Sie nicht als Opfer bereitstehen.

Die empfohlenen Reaktionen bei aggressiven Patienten
  • Schlagfertige Formulierungen für diverse Situationen im Kopf bereitlegen
  • Nicht als Opfer behandeln lassen
  • Nicht in Schockstarre verfallen
  • Wenn nötig, Unterstützung holen
  • Für Öffentlichkeit sorgen
  • Chef oder Chefin Bescheid geben
  • Wenn angebracht, die Polizei rufen

Wie reagiert man bei körperlichen Angriffen spontan?

Dr. Martin Eichhorn: In unserer Gesellschaft sind gewaltsame Übergriffe zum Glück relativ selten. Das ist großartig – es bedeutet aber auch, dass Menschen in unserer Kultur wenig Erfahrung im Umgang mit tatsächlicher Gewalt haben und in solchen Situationen schnell überfordert sind. Auch wenn es natürlich Dinge wie häusliche Gewalt oder Gewalt gegen Kinder gibt – in Deutschland wird man relativ selten Gewaltopfer und kann sich in der Öffentlichkeit relativ angstfrei bewegen. Naturgemäß reagieren wir Menschen seit Jahrmillionen mit drei verschiedenen Reaktionsformen auf Gewalt. Erstens: Wenn wir wegrennen können, rennen wir weg. Zweitens: Wenn wir nicht wegrennen können oder das eher unserem Charakter entspricht, dann setzen wir uns zur Wehr und kämpfen. Das Dritte ist die Schockstarre – das heißt, dass man quasi einfriert und sich nicht mehr bewegen kann. Unseren Vorfahren hat das geholfen, weil viele tierische Fressfeinde auf Bewegung reagieren. Heute hilft uns das nicht mehr.

Was ist zu tun bei sexueller Belästigung in der Praxis?

Dr. Martin Eichhorn: Mir fällt dazu ein ganz konkreter Fall ein, der vor ein paar Jahren durch die Medien ging: In Baden-Württemberg gab es einen etwa 30-jährigen Mann, der in verschiedenen Zahnarztpraxen in kurzen Abständen Termine für Prophylaxebehandlungen wahrgenommen hat. Und während er von den ja meistens weiblichen ZFA behandelt wurde, hat er angefangen zu onanieren. Irgendwann wurde er von einer ZFA tatsächlich angezeigt, und dann stellte sich heraus, dass vorher viele Kolleginnen einfach mit der Prophylaxe weitergemacht haben, weil sie so geschockt waren, dass sie nicht wussten, wie sie sonst reagieren sollten. Das ist eine gängige Reaktionsform. Wir denken oft: „Das kann nicht sein, das darf nicht sein – dann ist es auch nicht so“. Bei sexueller Belästigung sollten die Betroffenen immer auf ihr Bauchgefühl hören. Wenn man das Gefühl hat, dass irgendetwas nicht stimmt, ist da meistens etwas dran.

Wie sollte man in so einer Situation am besten reagieren?

Dr. Martin Eichhorn: Als erstes sollte man sich der Situation entziehen – also vielleicht unter dem Vorwand, dass man etwas holen muss oder das Telefon geklingelt hat, den Raum verlassen. Hier hilft auch wieder etwas mentales Training im Vorfeld. Dann kann man draußen kurz durchschnaufen und sich dann von anderen Kollegen Unterstützung holen. Und dann muss man so einen Idioten aus der Praxis schmeißen, für Öffentlichkeit sorgen und den Praxisinhaber darüber informieren, was passiert ist. Oder man ruft direkt die Polizei – das ist in so einem Fall auch gerechtfertigt.


Dr. Martin Eichhorn hat unter anderem für die Ärztekammer Niedersachsen die Broschüre „Übergriffe gegen Praxisteams – Vorbeugen und abwenden“ verfasst, die viele hilfreiche Tipps zum Thema Gewaltprävention aufgreift.

 

Mehr Infos : www.martin-eichhorn.berlin



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