Ganz aktuell wurde eine neue, umfangreiche S3-Leitlinie zur Behandlung von Parodontitis Stadium I bis III veröffentlicht. Auf 157 Seiten werden evidenzbasierte Empfehlungen für viele Bereiche der PA-Behandlung gegeben. DH Sylvia Fresmann, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Dentalhygieniker/Innen, war direkt bei der Erstellung der Leitlinie dabei. Im Gespräch mit DENTAL team gab sie erste Einblicke in die Veröffentlichung.
Die neuen Paro-Leitlinien unterscheiden vier Phasen der Therapie. Welche sind das?
DH Sylvia Fresmann: Der Therapieablauf einer Parodontitis der Stadien I bis III sollte abgestuft und aufeinander aufbauend erfolgen. Die erste Therapiestufe ist die Initialbehandlung. Die Schwerpunkte liegen hier einerseits bei der Verhaltensänderung des Patienten, andererseits wird natürlich der supragingivale Biofilm entfernt und die Risikofaktoren angesprochen und kontrolliert. Diese erste Phase soll den Change-Prozess zu einem guten Gesundheitsverhalten beim Patienten unterstützen, Risikofaktoren sollen angesprochen und möglichst eliminiert werden und auch lokale Reizfaktoren sollen behandelt werden.
Die 2. Therapiestufe, die Antiinfektiöse PA-Therapie (AIT), ist die ursachenbezogene Behandlung. Hier soll subgingival instrumentiert werden, um die Zähne vom Biofilm, Zahnstein und Konkremente zu reinigen und die Zahnoberflächen perfekt zu reinigen. Die Behandlung sollte unabhängig vom Erkrankungsstadium stattfinden, allerdings nur an Zähnen mit Verlust von Stützgewebe und/oder vertieften parodontalen Taschen. Nach 3 bis 6 Monaten sollte dann eine Reevaluation stattfinden, um den weiteren Therapiebedarf zu bewerten.
Wurden die Ziele erreicht, keine parodontalen Taschen >4mm mit Blutung oder keine tiefen parodontalen Taschen >6mm, wird die Unterstützende PA- Therapie geplant – die Therapiestufe 4.
Sollte jedoch das Ziel nicht erreicht worden sein, so schließt sich die Therapiestufe 3, die chirurgische PA-Therapie (CPT), zunächst an. Hier kann ein wiederholtes subgingivales Instrumentieren, ein parodontalchirurgisches Vorgehen oder/und resektive oder regenerative PA-Chirurgie durchgeführt werden. Nach 3 bis 6 Monaten wird wieder eine Reevaluation eingeplant, im Idealfall sind die Therapieziele erreicht und der Patient wird in die Unterstützende PA-Therapie aufgenommen. Manchmal ist es allerdings auch möglich, dass bei Patienten mit Stadium III nicht an allen Zähnen die Ziele erreicht werden.
Die 4. und letzte Therapiestufe ist die Unterstützende PA-Therapie (UPT). Die UPT zielt darauf ab, die guten Ergebnisse zu stabilisieren und die Motivation des Patienten hoch zu halten. Sie beginnt nach der letzten Reevaluation der AIT oder CPT. Bei der UPT-Sitzung wird die häusliche Mundhygiene und eine mögliche Entzündungsreaktion untersucht – hier stehen Plaqueindices und der Blutungsindex Blutung auf Sondierung (BOP) zur Verfügung. Hier ist es insbesondere wichtig, immer die gleichen Indices zu erheben, da sonst eine Verlaufskontrolle dieser beiden Parameter nicht möglich ist. Selbstverständlich wird der Patient auch noch einmal motiviert und instruiert – wir wissen aus vielen Studien und unseren eigenen Erfahrungen, dass die Mitarbeit der Patienten im Laufe der Behandlung nachlässt. Des Weiteren schließt sich eine gründliche supra- und subgingivale Reinigung an – subgingival nur an Stellen mit 4mm und BOP oder an allen weiteren Stellen ab 5mm.
Das zeigt uns schon, wie unerlässlich die parodontale Befunderhebung ist – in der UPT-Phase sollte einmal pro Jahr eine vollständige parodontale Reevaluation mit sechs Messpunkten CAL (klinischer Attachmentlevel) – also Sondierungstiefen und Gingivaverlauf, Plaque-und BOP, Lockerungsgrade und Furkationsbeteiligung etc. durchgeführt werden. Diese gründliche Dokumentation erlaubt eine gute Verlaufskontrolle und macht somit eine frühzeitige Intervention möglich. Zum Schluss erfolgt noch die Einstufung in die neue Klassifikation. Das ermöglicht ab 01. Juli, wenn die neuen PA-Richtlinien in Kraft treten, eine UPT-Planung nach der Gradierung – Grad A einmal pro Jahr, Grad B 2 x pro Jahr und Grad C 3 x pro Jahr. Diese Frequenz könnte aber für manche Patienten zu gering sein, denn diese Einteilung berücksichtigt nicht den Schwergrad, das Stadium der Parodontitis des Patienten. Die individuelle Frequenz der UPT sollte also aus unserer Erfahrung auch weiterhin alle Risikofaktoren und Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen.
Wo ergeben sich durch die neuen Leitlinien die größten Veränderungen bei Patienten mit Parodontitis-Behandlung im Alltag?
Fresmann: Ich denke, die größte Veränderung ergibt sich schon am Anfang – bei der Anwendung der neuen Klassifikation. Jede Praxis sollte sich mit der neuen Klassifikation beschäftigen und sich konzeptionell daran orientieren, das ist gar nicht so schwierig. Bei der Erstuntersuchung sollte bereits der PSI dazu gehören, um die Patienten mit Verdacht auf Parodontitis zu identifizieren. Danach erfolgt die initiale Therapie mit umfangreicher parodontaler Befunderhebung und Bestätigung der Verdachtsdiagnose PA mit anschließender Einstufung in die neue Klassifikation der PA-Erkrankungen. Das hört sich alles kompliziert an, jedoch kann man heute computergestützt arbeiten – etwa mit ParoStatus.de – dann wird die Befunderhebung und die Klassifikation zum Kinderspiel.
Die Leitlinie stärkt ganz klar die UPT und sieht das häusliche und professionelle Biofilmmanagement als Rückgrat der PA-Behandlung. Stärkt das auch die Position der Prophylaxemitarbeiterinnen?
Fresmann: Endlich! Ich denke, die Kollegen und Kolleginnen bekommen jetzt viel zu tun. Um alles gut umzusetzen, sollte vielleicht die eine oder andere Fortbildung virtuell besucht werden. Es gibt viele Online-Fortbildungsangebote oder E-Learnings. Es gibt viel Neues – packen wir es an!
Die Leitlinie lässt den Behandlern bei vielen Empfehlungen die Wahl. Sind diese offenen Empfehlungen ein Vor- oder Nachteil?
Fresmann: Auf den ersten Blick sieht es vielleicht so aus, als ob vieles sehr offen formuliert ist. Aber das ist ein gutes Beispiel: Wie sollen wir es jetzt machen? Quadrantenweise oder FMD innerhalb von 24 Stunden? Die Experten kamen zu der Empfehlung, dass die subgingivale Instrumentierung entweder traditionell quadrantenweise ODER im FMD-Vorgehen innerhalb von 24 Stunden durchgeführt werden sollte. Beide Möglichkeiten sind nach der aktuellen Wissenschaft möglich und beide Methoden sind gleichwertig. Voraussetzung dafür ist eine gute Instrumentierung – egal mit welchem Instrument oder Gerät – es kommt auf die Technik und die Erfahrung des Behandlers mit dem Gerät an!
Diese Leitlinie soll die Bedeutung und Notwendigkeit der Wissenschaft in die Entscheidungsprozesse bei der Behandlung der Parodontitis mit den Stadien I bis III untermauern., um die Qualität der PA-Therapie zu verbessern, die Zahl der verlorenen Zähne zu verringern und die Allgemeingesundheit und Lebensqualität unserer Patienten zu verbessern.
Jeder Patientenfall ist anders – Rahmenbedingungen, Risikofaktoren, Allgemeingesundheit, Lifestyle, Medikamente und Motorik eines jeden Patienten sind unterschiedlich und müssen individuell bewertet werden – das führt zu einer individuellen Therapie mit einem „Rahmen“ aus den Leitlinien.
Bei der Behandlung unserer Patienten gibt es kein „schwarz oder weiß“ – wir müssen immer die individuellen Umstände mit einbeziehen. Die Leitliniengruppen haben es sich nicht leicht gemacht und alle Fragen methodisch aufgearbeitet. Alle Empfehlungen, die sich aus den wissenschaftlichen Arbeiten ergaben, in Stufen des Empfehlungsgrades eingeteilt. So entstanden Empfehlungen, die nach ihrer Evidenz eingeteilt wurden. Das Grading-Schema der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V., AWMF & Standing Guidelines Commission, 2012, hat drei Empfehlungsgrade: A, B und C. Im einzelnen bedeutet das, dass der Grad A einen starke Empfehlung ist (soll oder soll nicht), der Grad B eine Empfehlung (sollte oder sollte nicht) und der Grad C eine offene Empfehlung (kann erwogen werden oder kann verzichtet werden). Und um nochmal auf unsere Frage quadrantenweise oder 24-Stunden FMD zurückzukommen – diese Frage wurde mit einem Grad B beantwortet.
Das mag auf den ersten Blick sehr offen erscheinen, lässt aber die Individualität zu, die wir bei der Behandlung mit unseren Patienten brauchen.
Wird der Patient in der Parodontitis-Behandlung mehr in die Pflicht genommen? Immerhin sollen keine parodontalchirurgischen Eingriffe bei Patienten ohne adäquate Mundhygiene erfolgen?
Fresmann: Nun, wir geben uns schon immer viel Mühe, die Patienten für eine effektive Mundhygiene zu begeistern. Parodontale Gesundheit kann man nur im Team erreichen – jeder muss mitmachen – der Patient und wir. Deshalb ist es so wichtig, Patienten in dem Prozess mitzunehmen und deren Einflussmöglichkeiten zu zeigen – nur ein Patient, der die parodontale Erkrankung verstanden hat, wird auch Zuhause mitmachen. Alleine bewirken wir wenig!
Am Ende wollen wir erreichen, dass wir stabile parodontale Verhältnisse schaffen – das geht nur MIT den Patienten! So steht für uns im Vordergrund, die Motivation der Patienten hoch zu halten und die häusliche Mundhygiene zu unterstützen. Dabei kommt es darauf an, dass wir nicht die Produkte empfehlen, sondern auch im Mund des Patienten die Anwendung zeigen und ihn selbst auch unter unserer Anleitung durchführen lassen. Tell-show-do ist enorm wichtig, denn nur was der Patient selbst probiert hat, hat Chancen auf Umsetzung bei ihm Zuhause.
Zudem ist es ein Prozess, der durch uns begleitet werden muss, denn manches klappt nicht gleich. Wir drucken unseren Patienten einen „Mundhygieneplan“ und zeigen auch unsere Prophylaxe-App. Hier geben wir nicht nur Hinweise und Empfehlungen, sondern stellen dem Patienten kleine Putzvideos zur Verfügung, so dass er Zuhause noch einmal die Reihenfolge, die Zeit und auch die Technik unserer Empfehlung zum Beispiel beim Zähneputzen auf dem Handy sieht. Besonders wichtig ist auch die Zwischenraumreinigung, auch hier wird ein kleines Video zur Verfügung gestellt, welches die Technik in den Fokus rückt. Wir nutzen solche digitalen Möglichkeiten, um die Patienten in dem Prozess zur besseren Mundgesundheit zu begleiten – dann klappt es auch mit guten Plaquewerten.
Wie sehen Sie die Empfehlung, dass elektrische Zahnbürsten empfohlen werden können, Interdentalraumbürstchen von den Patienten verwendet werden sollen und Zahnseide nicht die erste Wahl für die Zahnzwischenraumpflege ist?
Fresmann: Nun, wir sprechen hier von PA-Patienten, also von Patienten mit großen Zwischenräumen und häufig fehlender Papille. Hier ist tatsächlich die erste Wahl das in der Größe angepasste Zwischenraumbürstchen – mit Zahnseide kommt man bei großen Zwischenräumen nicht weiter. Das Bürstchen muss raumfüllend angepasst werden, dass heißt manchmal sind mehrere Größen notwendig. Dies wiederum ist aber gerade am Anfang der Mundhygienereise für viele Patienten zu viel. Wir empfehlen am Anfang in der Regel zwei Größen, aber unterschiedliche Techniken in der Anwendung. Bei den zu großen Zwischenräumen empfehlen wir dann die X-Technik, also das Bürstchen mal mehr von distal und dann von mesial einführen – als ob man im Zwischenraum ein X zeichnen würde. Viele Patienten haben davon noch nie gehört, dass auch Interdentalraumbürstchen mit unterschiedlichen Techniken eingesetzt werden und sind am Anfang etwas ungeschickt. Da hilft uns dann die App, in der der Patient sich selbst Zuhause kontrollieren und korrigieren kann – so hat er seine Prophylaxefachkraft immer an seiner Seite!
Auch zu den Inhaltsstoffen von Zahnpasta und Mundspüllösungen äußert sich die Leitlinie. Was wird empfohlen und ist das eine Überraschung?
Fresmann: Nein, keine Überraschung. In der UPT sollten (Empfehlungsgrad B) Produkte ausgewählt werden, die CHX, Triclosan/Copolymer oder Zinnfluorid-Natriumhexametaphoshat enthalten, um die gingivale Entzündung unter Kontrolle zu halten. Diese Informationen hatten wir in den Praxen schon, denn bereits 2018 wurde die S3 Leitlinie „Häusliches chemisches Biofilmmanagement in der Prävention und Therapie der Gingivitis“ veröffentlicht, die in gleicher Form für die UPT übertragen werden kann.
Weitere Informationen findest Du auf dem YouTube-Channel der DG-PARO.
Dr. Wilfried Forschner
22 März
Hallo Frau Freesmann, das mit den “SECHS” Messpunkten ist (glücklicherweise) nicht gefordert. Es sind sowohl zu Beginn und auch in der UPT-Phase ZWEI Messpunkte, Ursprünglich waren SECHS vorgesehen.
(Quelle: KZV BW)
Grüsse aus der Ferne
Dr.W.Forschner